In diesem Buch soll es um die Frage gehen, wie (und warum) das
Universum entstanden ist. Es soll darum gehen, ob die «Bühne», bestehend
aus Raum und Zeit, auf der sich die Ereignisse in der Welt abspielen, nicht
eine tiefere Struktur hat, die erklären könnte, was Raum und Zeit ihrem
Wesen nach eigentlich sind. Könnten nicht Raum und Zeit aus etwas… mehr
Fundamentalerem entstanden sein? Was heißt dann aber «entstehen»? Seit
einigen Jahrzehnten hat sich die Physik so weit entwickelt, daß sie bis zu
diesen eigentlich philosophischen Fragen vorgedrungen ist und sie den
Philosophen und Theologen abgenommen hat.
Dr. Faust beklagt sich bitter: «Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und
Medizin und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da
steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!» Vielleicht
hätte er auch Physik studieren sollen. Aber diese Wissenschaft hat Faust
sicher nur am Rande wahrgenommen, als er sämtliche Fakultäten durchlief,
mit heißem Bemühn, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Dabei ist er gescheitert. Nun hat er sich der Magie ergeben. Wir wissen:
Das wird ein böses Ende nehmen.
Was die Welt im Innersten zusammenhält, weiß die Physik bis heute nicht.
Aber sie bemüht sich redlich, in Form mathematischer Modelle in die
Tiefenstruktur der Natur einzudringen. Dabei stößt sie an ihre Grenzen in
Raum und Zeit. Fausten ungleich, verzweifelt die Physik jedoch nicht und
ruft Geister an, sondern sie versucht, nüchtern ihre Modelle immer weiter
zu verfeinern und auszubauen und sich auf diese Weise auch heute noch
unlösbar scheinenden Problemen zu nähern. Wie wird das enden? Wird es denn
überhaupt ein Ende nehmen? Wird es eine letzte Theorie, eine fundamentale
Theorie, eine Theorie von allem geben? Eine Theorie, die erklärt, warum die
Natur so beschaffen ist und nicht anders? Die erklärt, warum aus einfachen
«Bestandteilen» komplexe Zusammenfügungen entstehen? (Zum Beispiel wir!?)
Sind wir fähig, eine Theorie zu erstellen, die sogar die Frage «Warum ist
überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?» beantwortet? Darüber werden wir
uns Gedanken machen. Aber erst einmal bleiben wir bescheidener und klären
einige Eigenheiten der Physik.
Die Physiker sehen von der Kompliziertheit und von den qualitativen
Aspekten der Lebenswelt, von unserem alltäglichen Leben, ab. Sie schaffen
sich eine «reine» Welt von Objekten, die es so in unserer Welt nicht gibt.
Diese reine, idealisierte Welt erschaffen sie in ihren Modellen. Dann
hoffen sie, daß diese reine Welt in irgendeinem Zusammenhang mit bestimmten
Aspekten unserer Welt steht, welcher diese Modelle «wahr» macht. Denn im
Gegensatz zu den Mathematikern können sich die Physiker ihre Modelle nicht
einfach «zurechtde. nieren» und behaupten, daß alle widerspruchsfreien
Modelle schon «wahr» seien. In irgendeiner Weise (wie genau, darüber
streiten sich die Philosophen) muß die «Natur» darüber mitentscheiden, ob
ein Modell (oder eine Theorie als gesetzmäßiger Zusammenhang von Modellen)
«wahr» ist. Hier kommt die Technik ins Spiel, oder das, was man gemeinhin
«Experiment» nennt - das meint mindestens die Benutzung von Instrumenten.
Außerdem behaupten die Physiker, daß sie die grundlegendsten und
allgemeinsten - nicht unbedingt die einfachsten - Eigenschaften der Natur
beschreiben. Den «Rest» überlassen sie den Chemikern, Biologen, Geologen
und anderen weniger wichtigen Gestalten. (Das ist nur leicht karikiert!)
Die «Natur» als Gegenstand der Physik besteht also aus den grundlegendsten
und all gemeinsten Eigenschaften bestimmter Aspekte unserer Welt, die man
in mathematischen Modellen abbilden kann. Die Modelle und die letztlich aus
ihnen erwachsen- den Theorien sind wahr, also gültig, solange sie einem
«Widerstand von außen» standhalten, der meist durch künstliche Mittel
(Instrumente) erzeugt wird, der aber in seiner speziellen widerlegenden
Kraft nie vorhersehbar ist. Die Physiker nennen diese Kraft «Erfahrung»
oder «Empirie». Außerdem sollten physikalische Theorien natürlich auch
widerspruchs frei, irgendwie (die Vagheit ist kaum zu beseitigen) kohärent
und kompakt sein und einen Teil der «Wahrheit» anderer Theorien mitnehmen
und bewahren, die von der Kraft der Empirie verworfen wurden. Die
physikalische Wahrheit ist nämlich in der Zeit, denn die Naturwissenschaft
hat eine Geschichte. Beispielsweise wird Newtons klassische Mechanik sowohl
von der Relativitätstheorie als auch von der Quantentheorie strenggenommen
widerlegt. Allerdings - so gut wie - nur in den Grenzbereichen größter
Geschwindigkeiten und kleinster Entfernungen, so daß die Physiker von einem
eingeschränkten Gültigkeitsbereich der klassischen Theorie sprechen. Früher
- bis Ende des 19. Jahrhunderts - wurde diese Theorie jedoch noch als
universal gültig erachtet. Die Formulierungen «größte Geschwindigkeiten »
und «kleinste Entfernungen» beziehen sich freilich auf Messungen, bezüglich
deren Theorien vergleichbar sind. Die Gegenstandsbereiche selbst sind
jeweils andere, sie können aber auch kommensurabel, also vergleichbar sein.
Wir müssen uns also mühsam durcharbeiten, von der Verwerfung einer
«Wahrheit» zur Annahme der nächsten Wahrheit und so fort bis ... zur
letzten Theorie?
Faust hatte es leichter auf seinem magischen Weg, der uns verbarrikadiert
ist, wenn wir den rationalen Pfad der Physik und Philosophie begehen
wollen. «Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen? Bin ich ein
Gott? Mir wird so licht! Ich schau in diesen reinen Zügen die wirkende
Natur vor meiner Seele liegen.» Die wirkende Natur? Nicht in all ihrer
wahrnehmbaren Pracht! Ja, die Natur wirkt, aber wie nüchtern klingt der
kalte Satz, daß die Wirkung in der Dimension Energie mal Zeit ausgedrückt
werden muß.
Werner Heisenberg bemerkte einmal scherzhaft: «Ein ruhig stehender Elefant
wäre im Zustand mit Drehimpuls 0, aber dann wäre er kugelsymmetrisch.» Wir
werden in diesem Buch eine im Wesentlichen «kugelsymmetrische» Welt
behandeln. Es handelt sich um die Welt der Modelle, aber sie wird bunt und
interessant genug sein. Wir wollen die Modelle untersuchen, die uns einen
Einblick hinter die Bühne von Raum und Zeit geben. Es soll sich uns ein
Anblick enthüllen, welcher der «Grundzustand» der Natur und des Universums
genannt werden könnte. Nennen wir ihn doch so. Aber wir werden nicht
persönlich dahintersteigen. Wir müssen die Brillen verschiedener Theorien
aufsetzen. Wird sich vor uns eine Landschaft auftun, die raum- und zeitlos
ist, aber nicht statisch und strukturlos? Das ist die Frage. Wird sich
nicht unsere Sprache verwirren und verknoten, wenn wir davon sprechen, wie
das Universum und damit die Zeit entstanden ist? Entstanden? Die Zeit?
Alles hängt davon ab, ob physikalische Modelle imstande sind, diese
Verknotungen zu lösen, und ob wir schließlich die losen Fäden wieder zu
einer begrifflichen Einheit zusammenschießen lassen können. Wenn wir die
physikalischen Modelle nicht wieder philosophisch kohärent reflektieren
können, werden wir blind bleiben.
Trotz aller Nüchternheit: Lassen wir uns inspirieren vom Geist, den Faust
rief und der sprach: «In Lebens. uten, im Tatensturm wall' ich auf und ab,
webe hin und her! Geburt und Grab, ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben,
ein glühend Leben: So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke
der Gottheit lebendiges Kleid.» Das Gewebe des Universums, zusammengewirkt
aus den Fäden von Raum und Zeit, von Materie und Energie, immer komplexere
Muster formend, bildet unseren Stoff. Begleiten Sie mich auf die Reise zum
Webstuhl der Zeit. weniger