Innerhalb des ersten "Six-Packs" der neuen Simenon-Ausgabe bei Diogenes ist dies wohl das stärkste Buch. Vom Ansatz her ist es keine Überraschung, wie oft bei Simenon wird der Einbruch eines außergewöhnlichen Ereignisses in den Alltag geschildert, der innere Konflikt schließt hier jedoch zwei Personen ein und auch die Nebenfiguren sind für Simenons Verhältnisse sehr ausführlich gezeichnet. Bébé und Francois Donge sind seit 10 Jahren "glücklich" verheiratet, das heißt: … mehrBébé ist anhänglich und hübsch, Francois angesehen und erfolgreich. Neben einem gut gehenden Betrieb teilt er mit seinem Bruder Félix ein Ferienhaus auf dem Lande -- alles scheint zum Besten zu stehen. Eines schönen Augusttages jedoch überlebt Francois nur knapp eine Dosis Arsen, die seine Frau ihm in den sonntagnachmittäglichen Kaffee getan hat, und muss nun miterleben, wie Bébé in Untersuchungshaft genommen und ihr Privatleben en détail analysiert wird. Es ist beeindruckend, mit welcher Sensibilität, jenseits von Kitsch und Betroffenheitschargon, Francois' Rückblick auf zehn Jahre Ehe geschildert wird; wie Missverständnisse und Unvermögen, mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu einem gemeinsamen Leben ohne wirkliche Gemeinsamkeiten geführt haben. Gerade vom viel geschmähten Lüstling Simenon kommt dergleichen unerwartet, und so ist es nur natürlich, dass Bébés Tat zum Schluss zwar von Francois (und uns) als durchaus logische Konsequenz ihrer Existenz gesehen, von "Freunden" und Justiz allerdings keineswegs akzeptiert werden kann. Ein kleines Meisterwerk des psychologischen Thrillers, allen Zweiflern am Können des Meisters und allen Einsteigern wärmstens empfohlen -- trotz oder vielleicht gerade wegen des uncharakteristischen Blickwinkels. --Hannes Riffel weniger