"Nicht weinen, nicht klagen, verstehen, was geschieht." Spinoza
Tatjana Arkadjewna Orlowa wurde zu nichts anderem erzogen, als zu leben und erblickt jetzt im Spiegel eine groteske Erscheinung, die unmäßig dick, alt und behindert ist. Listig hat sich das Alter hinter ihrem Rücken eingeschlichen. Doch sie jammert nicht. Sie hat ihren Frieden mit dem Leben geschlossen, das ihr zu verstehen gibt, daß die Männlichkeit sie nicht mehr betrifft. Und so starrt sie eines Tages in … mehrihrem Amsterdamer Lokal "Ural", das sie vor Jahrzehnten eröffnete, als das Leben, das zu leben war, sie von Russland in die Niederlande verschlug, einen neuen Gast unverhohlen an, dessen Blau in seinen Augen sie angreift. Er kommt jetzt jeden Tag. Sie kennt ihn. Sie weiß, daß er weiß, daß sie weiß. Auf ihre alten Tage wird sie Augenzeugin, Beobachterin, Berichterstatterin einer ungewöhnlichen, verwickelten, tragischen und traurigen Geschichte, in der traumatische Vergangenheiten, politische Weltbilder, religiöse Urkriege und schmerzhafte Liebessehnsüchte ein bizzares Gewächs ergeben. Olga, die "aus dem Fuffzehn-Watt-Funzellicht der DDR" geflüchtet ist, Alon, jetzt Professor für Bewußtseinsforschung, der im Kiebutz aufwuchs und eine dunkle, aber noch sehr lebendige Vergangenheit hat. Elias, der langjährige gute Freund, der zu Grabe getragen wird. Tatjana, die immer gegen die Liebe lebte, seit ihre Eltern den Freitod wählten und die schwarze Kolumnistin, die jetzt immer in den "Ural" kommt, um die verworrenen Ereignisse in der Woche vom 1.- 9. November 1987 zu verfolgen. Alle verbindet sie etwas, wovon der eine manchmal mehr weiß als der andere. Die Juden, der Holocaust, das dritte Reich, die DDR-Vergangenheit, Israel, Verfolger und Verfolgte, Agenten, geheime Machenschaften. Das explosive Gemisch, daß der weiß, daß der weiß und doch nicht weiß, ob der andere auch weiß, explodiert in der Nacht vom 8. zum 9. November, während die Amstel in Amsterdam, ganz ähnlich wie der Ural in der Heimat, sich wie immer zwischen den Häuserfluchten verkriecht. Tatjana wälzt sich auf ihrem Bett und kennt nun die ganze Geschichte. Sie weiß, daß sie wissen, daß sie weiß und hat alles aufgeschrieben. Ein bissiges Buch, abgeklärt, metaphysich, taktlos wirklich, illusionslos, voll harter Geschichte und kühler Realität, verfaßt in einem zackigen Stil. --Daphne von Unruh weniger