Manchmal eröffnen Gedichtlesungen dem Hörer eine neue, bei eigener Lektüre so nicht erkannte Welt. Klaus Kinski ist dies mit Villons Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund sicherlich ebenso gelungen wie Bruno Ganz mit seiner melancholisch-leisen Interpretation der Lyrik Friedrich Hölderlins. Und auch Gerd Fröbes Vortrag der Texte Christian Morgensterns im Ortskino von Schliersee in der Nachkriegszeit gehört zu den seltenen Glücksmomenten dramatischer Lesekunst. Von … mehrdiesen legendären "Bunten Abenden" erzählt Fröbe auf Cover und Beiheft der CD Morgenstern am Abend, die die famosen Lesungen des Schauspielers nun wieder greifbar macht. Aber eigentlich liest Fröbe Morgensterns Lyrik gar nicht, sondern ist ganz die darin beschworene, tragikomische Stimme der Natur: Im Windgespräch ein pures Rauschen, in der Meeresbrandung ganz wildes Brausen und in Die Flamme ein zunächst züngelndes, dann loderndes Verbrennen. "Es war", beschreibt Fröbe diese perfekte Symbiose zwischen Interpret und Dichtung, "als hätte ich gefunden, wonach ich schon immer insgeheim gesucht hatte, ohne es zu wissen". Wie Fröbe Morgensterns visuelles Figurengedicht Fisches Nachtgesang in Schliersee auf Karton aufmalte, hätte man natürlich gern einmal wiedergesehen (das ZDF besitzt Archivmaterial). So hört man nur das Kratzen des Filzstifts nebst Fröbes Erläuerungen und muss sich mit den Fotos auf dem Cover begnügen. Und auch die brillante Darstellung eines unentschlossenen Weichtiers im Gesprächs einer Hausschnecke mit sich selbst, dessen sprachliches Kreiseln um eine simple Entscheidung ("Soll i aus meim Hause raus? / Soll i aus meim Hause nit raus?") im Gedicht die spiralförmige Struktur seines Schneckenhauses imitiert, wäre überaus sehenswert. Bei Morgenstern am Abend bleibt einem immerhin der pure Hörgenuss. Und deshalb sollte man sich dabei ganz in sein eigenes Schneckenhaus verkriechen und dem Fröbe lauschen. Spieldauer: 40 Minuten, 1 CD.
--Thomas Köster weniger