Als Heiner Müller im Dezember 1995 stirbt und ihm zu Ehren im Berliner Ensemble ein einwöchiger Lese-Marathon über die Bühne geht, pilgern tausende Fans des Dramatikers nach Berlin. Unter ihnen, auf einem unbequemen Schemel genau vor seiner aktuell Angebeteten, geht auch der Held von Jochen Schmidts erstem Roman seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er leidet. "Zwei Schauspieler lasen Quartett , und während ich versuchte, von hinten interessant auszusehen, tat mir der … mehrNacken weh." In Wahrheit sitzt Jochen Schmitt, so der kaum camouflierte Name des Protagonisten, zwischen allen Stühlen. Er ist ein hoch reflektierter Verlierertyp, beherrscht von vager Unzufriedenheit und einer auf die DDR-Vergangenheit gerichteten Sehnsucht -- nicht weil sie besser, sondern weil sie anders war und mit den eigenen Kindheitserinnerungen verknüpft ist. Die Wende erscheint ihm folgerichtig als Vertreibung aus dem Paradies; während sich die karrierebewussteren unter seinen Altersgenossen, beraten von besorgten Eltern, auf die Finanzierung ihrer dritten Zähne vorbereiten, verweigert Schmitt das Erwachsenwerden. Seine Erinnerungen an die Jahre nach dem Mauerfall, mehr Tagebuch als Roman, bieten reichlich Projektionsraum für flott erzählte Anekdoten in skurrilem Lokalkolorit. Jochen ist ein Virtuose des Scheiterns, egal, ob er in der Möchtegern-Bohème des Prenzlauer Bergs in die Fußstapfen seines Idols Heiner Müller zu treten versucht oder als Punk-Gitarrist dilletiert. Und als wären die Dinge nicht schon kompliziert genug, verstrickt sich unser Held heillos in nervenaufreibende Frauengeschichten: Die keusche Hobbylyrikerin Judith hält ihn in Berlin, die liebestolle Spanierin Lucia in der französischen Provinz auf Trab. Wegen Deborah, der schönen Jüdin aus New York, wagt sich der ewige Bedenkenträger Jochen am Ende sogar in den Big Apple. Bereits Schmidts Debütband Triumphgemüse glich einer belletristischen Wundertüte; inzwischen weiß man, dass der Autor ein begnadetes Erzähltalent ist. Großkritiker, die noch immer moralinsauer den ultimativen ostdeutschen Wenderoman einfordern, werden dieses hinreißende Selbstbildnis des Künstlers als junger Mann wohl wieder einmal wiegen und für zu leicht befinden. Sei es drum! Begünstigt durch eine andere "Gnade der späten Geburt" unterscheidet sich Schmidts Blick auf die späten 80er-Jahre und die Wendezeit erheblich von dem älterer Autoren; sein Ton ist ein anderer -- leichter, selbstironisch, selten zynisch. Schmidt ist ein leidenschaftlicher Sammler und Archivar mit zielsicherem Blick für die Grotesken des Alltags. Im Gewand des melancholischen Schlitzohrs hilft er uns bei der Suche nach der verlorenen Zeit. --Niklas Feldtkamp weniger