Nichts meidet der Berliner Filmemacher Oskar Roehler so vehement wie das Ausgewogene, die angeblich goldene Mitte, in der so viele deutsche Filmproduktionen schließlich spurlos verschwinden. Er will bewegen und polarisieren -- mit Suck my Dick, seinem vierten Kinofilm, genauso wie zuvor mit seinem Debüt Sylvester Countdown oder mit Die Unberührbare, seinem bisher größten Erfolg. Eine seltene Radikalität geht von seinen Arbeiten aus, die dem Werk Rainer Werner … mehrFassbinders genauso viel verdanken wie dem ästhetischen Underground der 70er- und frühen 80er-Jahre. Aber Roehlers Provokationen, und dazu zählt auch der Titel Suck my Dick, der eher eine poetisch-melodische als eine inhaltliche Bedeutung hat, sind nie nur Selbstzweck. Sie konfrontieren den Zuschauer mit einer gesellschaftlichen Realität, die das deutsche Kino ansonsten eher verdrängt. Der Schriftsteller Dr. Jekyll (Edgar Selge) ist ein Star des Berliner Literatur- und Kulturbetriebs. Doch gerade als er sich auf der Höhe seines Ruhmes befindet, gerät sein Leben immer mehr außer Kontrolle. Zunächst ist es nur die Angst, dass die Romanfigur Hyde (Ralf Richter) aus seinem Kopf heraus in die Realität treten könnte, die Jekyll den Psychiater Dorian (Wolfgang Joop) aufsuchen lässt. Schließlich bricht Hyde aber tatsächlich aus und beraubt den Autor mithilfe der "bezaubernden Jeannie" (Katja Flint), einer mysteriösen Fee, seiner Männlichkeit. In wüsten Albträumen verliert Jekyll sein überdimensioniertes Glied, seine Haare und vier Zähne, nur um aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass sie wirklich verschwunden sind. In der Welt von Suck my Dick reduziert sich der moderne Mensch genauso wie in den Romanen des französischen Skandalautors Michel Houellebecq, den Jekyll hier bei jeder Gelegenheit zitiert, auf seine erotische Attraktivität und seinen materiellen Besitz. Einen desillusionierteren Blick kann ein Film kaum noch auf den schönen Schein der Berliner Republik werfen. Für den Moralisten Oskar Roehler ist die ganze Polit- und Kulturszene der Hauptstadt nichts als ein zynischer Jahrmarkt der Eitelkeiten, dem man nur mit den Mitteln der Groteske begegnen kann. Mit Edgar Selge hat Oskar Roehler den idealen Darsteller für den Wahnsinn der Berliner Republik gefunden. Sein Porträt des langsam verschwindenden Mannes ist eine schauspielerische Tour de force, die ihresgleichen sucht. Wie tief Jekyll auch fällt, Edgar Selge gelingt es in jeder Szene, ihm noch einen Rest von Würde zu lassen. Der Autor mag seine Männlichkeit verlieren, aber erst durch diesen Verlust wird er menschlich. Roehler dringt tief in das System unserer auf zwei Dimensionen reduzierten Gesellschaft ein, in der nur Geld und Sex Bedeutung haben, und entdeckt auf ihrem Grund unermessliche Verlustängste, die den Menschen zu einem Gefangenen des Systems machen. Wer so wie Jekyll alles hat, viel Geld und einen riesigen Penis, will nichts verlieren. Aber nur wer alles verliert, kann am Ende seine Freiheit finden; und so wird die wüste Groteske schließlich zu einem utopischen Märchen. --Sascha Westphal weniger