Manche Schriftsteller kommen spät, aber gewaltig, Theodor Fontane zum Beispiel. Oder John Griesemer, der in seinem zweiten Roman -- ähnlich wie Fontane -- eine Welt im Umbruch schildert, vielleicht weniger literarisch, doch dafür mit hohem Unterhaltungswert. Die Geschichte ist alt und aktuell zugleich, es geht um die erste Telegrafenleitung durch den Atlantik. Zwischen 1857 und 1865 arbeitet der junge Ingenieur Chester Ludlow fieberhaft an diesem Pionier-Projekt, das … mehr"den großen Globus kleiner machen wird". Sein "Kreuzzug" für den Fortschritt entfremdet ihn allerdings seiner Frau, weil diese vor allem zurückblickt auf den tragischen Tod ihrer Tochter. Während Chester in London die Werbetrommel für die erste Expedition rührt, versucht Franny im heimischen Maine Kontakt zum Jenseits aufzunehmen. Chesters heftige Affäre mit Katerina, der Frau eines Mitarbeiters, sorgt für zusätzliche Spannung(en) bei dem Unternehmen, dem ohnehin "ein Hauch von Hochstapelei" anhaftet. In weiteren Hauptrollen erleben wir den Zeichner Jack und Chesters Bruder Otis, das "Genie ohne Kompass". Personenführung und Timing sind die Stärken des Autors, der auch Schauspieler ist und von sich sagt, er schreibe "sozusagen dramatisch". Dass die Figuren sich auf dem "großen Globus" permanent über den Weg laufen, darf man als augenzwinkernde Reverenz an Griesemers erklärtes Vorbild Dickens verstehen. Historisches Kolorit wird ebenso sparsam wie wirkungsvoll verwendet, etwa, wenn die stinkende Themse ganz London lähmt. Fast mühelos folgt man den Hauptfiguren dabei, wie sie ihre persönlichen Visionen -- spiritueller, technischer, künstlerischer oder erotischer Natur -- zu verwirklichen suchen. Wie sie zuweilen in einen Rausch geraten, um wenig später Sinnlosigkeit und Verzweiflung zu gewärtigen: "Kein Signal, bloß Rauschen" (Signal & Noise lautet der nüchterne Originaltitel) -- das gilt für das Telegrafen-Kabel wie für die Menschen. Dass immer noch die es sind, die Geschichte machen, und nicht die Maschinen, führt der Roman überzeugend vor. Manchem mögen die Parallelen zum Internet-Zeitalter forciert vorkommen, doch Griesemer ironisiert den Anspruch auf historische Authentizität gleich selbst. Einmal huscht Karl Marx durchs Bild (und kommt fast zu Tode), ein Jogger trabt durch London ("Er läuft? Warum, um Himmels Willen?"). Rausch ist ein Unterhaltungsroman im besten Sinne; ein historischer Roman über Große Erwartungen, der womöglich genau so viel mit dem 21. wie mit dem 19. Jahrhundert zu tun hat. --Patrick Fischer weniger