Warum sollte man ein ganzes Buch über Sigmund Freuds Krebserkrankung lesen? Das habe ich mir im ersten Moment auch gedacht. Aber allzu bald erweist sich die Sache als äußerst spannend und man sieht den Erfinder der Psychoanalyse in einem neuen, interessanten Licht. Denn ausgehend von dem Mundhöhlenkarzinom, an dem Freud die letzten 16 Jahre seines Lebens litt, rollt Kollbrunner die ganze Lebensgeschichte des Wiener Nervenarztes noch einmal auf. Die Psychoonkologie geht … mehrdavon aus, dass Krebserkrankungen immer auch durch psychische Faktoren bedingt sind. Um so verwunderlicher fand es der Autor, dass man gerade bei Sigmund Freud, über den schon so viel geschrieben wurde, und der darüber hinaus auch noch als einer der Begründer der Psychosomatik gilt, noch nie nach solchen Zusammenhängen gefragt hat. Die meisten Biografen betrachteten Freud als eine Art "unberührbare Ikone" und hüteten sich davor, den Menschen hinter dem Genie mit eben jenen Werkzeugen zu analysieren, die er selbst geschaffen hat. Genau das aber macht Kollbrunner: Mit geradezu detektivischem Ehrgeiz wühlt er sich in die Kindheitsgeschichte Freuds, fahndet nach Familiengeheimnissen und frühkindlichen Traumata, analysiert seine Primärbeziehungen, seine Psychostruktur und seine Abwehrmechanismen. Aber auch Freuds Ehe sowie die Beziehungen zu seinen Kindern und Mitarbeitern bringen sehr Erhellendes über die Persönlichkeit Freuds zutage. Nach und nach sichtbar wird das Bild eines ehrgeizigen Wissenschaftlers, der sich gerade wegen seiner emotionalen Defizite mit Haut und Haar seiner psychoanalytischen Mission verschreiben musste und auch seinen Preis dafür zu zahlen hatte. Kollbrunners packende Studie gerät aber nie in den Verdacht, nur eine jener zahlreichen und oft einseitigen Abrechnungen mit der Psychoanalyse und ihrem Begründer zu sein. Schließlich bedient er sich sehr geschickt der Erkenntnisse und Methoden der Tiefenpsychologie. Und seine gezielten Hammerschläge am Denkmal Sigmund Freuds bringen einem diesen außergewöhnlichen Menschen und seine Lebensgeschichte sehr viel näher als die allermeisten Publikationen das bisher vermocht haben. --Christian Stahl weniger